Gedanken über die Zukunft des organisierten Humanismus

Im Januar 1993 waren in Berlin Vertreterinnen und Vertreter des modernen praktischen Humanismus in Deutschland zusammengekommen, um den eigenen Werten und Idealen eine neue gemeinsame Heimat in einer deutschlandweiten Organisation zu geben. Heute jährt sich die Gründung des Humanistischen Verbandes Deutschlands zum zwanzigsten Mal. Grußwort von Frieder Otto Wolf zum 20-jährigen Jubiläum des Bundesverbandes.

Liebe Humanistinnen und Humanisten,

heute jährt sich die Gründung des Humanistischen Verbandes Deutschlands zum zwanzigsten Mal.

Im Januar 1993 waren in Berlin Vertreterinnen und Vertreter des modernen praktischen Humanismus in Deutschland zusammengekommen, um den eigenen Werten und Idealen eine neue gemeinsame Heimat in einer deutschlandweiten Organisation zu geben.

Ihre Ziele und Pläne waren von großen Hoffnungen und Gedanken getragen in einer Zeit des Umbruchs, in welcher der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung Deutschlands es denkbar werden ließen, den historischen Bruch zu überwinden, den Jahrzehnte zuvor die Verbote und Verfolgungen des Hitler-Regimes und später eine staatssozialistische Diktatur in den ostdeutschen Ländern früheren humanistischen Organisationen zugefügt hatten. Ein historischer Bruch, der bis heute noch nicht restlos überwunden ist und der sich auch bis heute in unserem vereinigten Land zum Nachteil vieler humanistisch denkender Menschen auswirkt.

Und doch liegen nun zwei Jahrzehnte des Arbeitens und Denkens in unserem Verband engagierter Humanistinnen und Humanisten in diesem Jahr hinter uns. Wir stehen heute vor einem Generationenwechsel, nachdem sich viele der Gründer bereits zurückgezogen haben und manche auch schon von uns gegangen sind.

Wenn ich heute auf den organisierten Humanismus in der Gegenwart unseres Landes schaue, erschließen sich mir unmittelbar drei Einsichten.

Die eine Einsicht ist, dass es alles nicht so einfach war, wie manche unter den Verbandsgründern sich das vielleicht vorgestellt hatten – aber dass es heute wieder gute Gründe für die damals schon gehegte Hoffnung gibt, überall in Deutschland humanistische Angebote für alle Lebenslagen und für alle Menschengruppen entwickeln zu können, d.h. einen wirklichen Volkshumanismus, organisieren zu können.

Denn für die feste Überzeugung, dass unsere Ideen und unsere Vorstellungen von den Bedingungen für eine friedliche und freie Gesellschaft, für ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben in solidarischer Verantwortung, das nicht auf einen religiösen Glauben oder Dogmen zurückgreift, praktisch umsetzbar und in der Zukunft tragfähig sind, gibt es nicht nur weiterhin gute Gründe, es gibt auch in vielen Bereichen bewährte entsprechende Erfahrungen.

Ich habe in den vergangenen Jahren selber erlebt und (wie viele andere von uns) auch dabei mitwirken dürfen, wie für den Humanismus als Weltanschauung und für unseren Verband als Gemeinschaft auf Grundlage dieser Weltanschauung in Deutschland wieder eine Zukunft geschaffen worden ist. Neue Vereinigungen von Humanistinnen und Humanisten sind in dieser Zeit zu unserem Bundesverband gekommen, ein neuer Landesverband Baden-Württemberg wird sich uns in diesem Jubiläumsjahr anschließen und künftig werden wir uns auch in Sachsen-Anhalt wieder auf einen Landesverband stützen können, auch ältere und traditionsreiche Landes- und Regionalverbände haben sich weiterentwickelt, so dass sie heute mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft blicken. Der Nürnberger Verband hat sich zum HVD Bayern entwickelt, der Berliner Verband hat mit Brandenburger Regionalverbänden einen großen HVD Berlin-Brandenburg gebildet. Heute haben wir Gelegenheit dazu, für all die Arbeit, die dazu geführt hat, unseren Dank zum Ausdruck zu bringen.

Ich glaube aufgrund der Erfahrung dieser 20 Jahre, dass unser Humanismus nur dann eine Zukunft hat, wenn er in seiner organisierten Form praktisch bleibt und in noch breiterem Umfang praktisch wird. Denn wir dürfen mit gutem Mut festhalten, dass überall dort, wo sich unser moderner Humanismus mit praktischen Angeboten zur Ausgestaltung und Bewältigung des Lebens verbunden hat, unser organisierter Humanismus zu einem relevanten Faktor in der Öffentlichkeit wie im Alltagsleben von Mitgliedern und Interessierten geworden ist.

Die andere Einsicht ist, dass sich humanistische Haltungen in unseren Gesellschaften und auch international heute genauso wenig wie früher ohne ein weiteres Zutun durchsetzen oder gar ausbreiten. Philosophen und Wissenschaftler mögen in uns Menschen das Potential erkannt haben, ein außerordentlich kluges, einfühlsames und freundliches Wesen sein zu können, das mehr zu Vernunft und Empathie als zu Irrationalismus, Festhalten an gefährlichen Mythen und rabiatem Egoismus neige.

Aber die als solche nicht vorhergesehenen Probleme des gesellschaftlichen Wandels im Deutschland der vergangenen 20 Jahren und auch die gegenwärtigen  vielfältigen und gravierenden Krisen unserer globalisierten Welt haben doch gezeigt, dass es zur Förderung des positiven Potentials einer überlegten und verlässlichen Zusammenarbeit all der Menschen, die im Sinne der Ziele und Ideale unseres Humanismus tätig sein können und wollen. Für sie bietet unser Verband einen hervorragenden, inhaltlich wichtigen und weiter wachsenden Rahmen. Ein Forum, innerhalb dessen weltanschauliche Selbstverständigung möglich wird, und eine Gemeinschaft, die gemeinsame Praxis möglich macht. Das dürfen wir uns immer wieder vergegenwärtigen: Es liegt in unserer Hand, ob wir uns gegenseitig behindern, uns zögerlich zurückhalten oder gemeinsam und mutig die nötigen Initiativen ergreifen.

Es gibt aber auch noch eine dritte Einsicht, an die ich heute erinnern möchte: Die Einsicht nämlich, dass wir keinen Alleinvertretungsanspruch haben und ihn auch gar nicht brauchen. Wenn auch andere sich organisieren, um bestimmte humanistische Thesen wirksamer zur Geltung zu bringen oder um bestimmte Felder humanistischer Praxis mit eigenen Initiativen zu bearbeiten, dann können wir das ganz gelassen sehen. Der Bedarf an humanistischen Thesen und Initiativen wächst immer noch schneller als das Angebot. Wenn außerhalb unseres Verbandes Zusammenhänge entstehen, die eigenständige humanistische Angebote einbringen können, verstärkt das die Präsenz humanistischer Angebote in unserer Gesellschaft und erleichtert auch uns unsere praktische Arbeit.

Das macht unsere Arbeit leichter: Wir können uns darauf konzentrieren, die Angebote unseres praktischen Humanismus weiter aufzufächern und umfassender zu qualifizieren.

Ein Fazit will ich heute ziehen: Die Herausforderungen sind nicht kleiner geworden sind, viele Chancen haben sich weitgehend verbessert. Wir sind auch endlich organisatorisch und konzeptionell so aufgestellt, dass wir diese Chancen auch erfolgreich wahrnehmen können. Nicht zuletzt das Internet bietet uns neue und bereichernde Möglichkeiten zur Kommunikation von Ideen, zur Information und zur Kooperation, ohne den direkten Umgang oder Kontakt und die direkte Kommunikation zu ersetzen. Wobei ich an dieser Stelle nicht darauf verzichten möchte, an ein Wort meines klugen Vorgängers Horst Groschopp zu erinnern, das auf den weltanschaulichen Auftrag unseres praktischen Humanismus verwies: „Wenn uns die Menschen nicht als tätige Humanistinnen und Humanisten erleben, können sie unsere Weltanschauung gar nicht erfahren.“

Weitere Chancen für unseren organisierten praktischen Humanismus liegen auch in der deutschlandweit gewachsenen weltanschaulichen Pluralität in unserer Gesellschaft, die uns in vielen Bereichen, insbesondere auf neuen oder von den Kirchen aufgegebenen Feldern, ganz neue Möglichkeiten für unsere humanistische Praxis bietet. Wir dürfen diese Chancen nicht unbeachtet lassen oder uns davon ablenken lassen, sie ernsthaft wahrzunehmen.

Abschließend möchte ich noch einen letzten Gedanken hervorheben. Viele Menschen neigen auch heute der Auffassung zu, dass sich die Prinzipien eines friedlichen und fairen Zusammenlebens auf Grundlage humanistischer Ideen mit der Zeit gleich einer kulturellen Evolution zu etwas Höherem oder Besserem durchsetzen werden. Andere wiederum glauben, derartige Fragen gingen sie einfach gar nichts an. Beide erliegen damit Illusionen, die wir zurückdrängen und überwinden sollten: Von selber werden sich humanistische Ideen nicht durchsetzen, ohne unser Handeln wird dies nicht gehen – und niemand sollte sich einbilden, die Humanisierung aller Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens hätte für sich keine Bedeutung.

Es mag zwar auch stimmen, dass die großen christlichen Kirchen in Deutschland, unter deren erdrückendem Einfluss einige unserer eigenen Traditionslinien und Positionen ihren historischen Ausgangspunkt finden mussten und in vielen Regionen der Welt bis heute finden müssen, auch in Zukunft an Anhängern verlieren werden und dass ihre Dogmen verblassen: „Es ist der gesunde Menschenverstand, die Bildung der Zeit, das Licht und die Wahrheit, die ihr gelästert und die Euch nun zermalmen“, zeigte sich schon der Politiker und Aufklärer Robert Blum lange vor diesem Jubiläumsjahr überzeugt.

Doch wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten unser Bundesverband als Reaktion auf die gute Einsicht wuchs, dass Humanistinnen und Humanisten aus dem Süden unseres Landes die Anliegen und Interessen der Humanistinnen und Humanisten an der Nordsee nicht außer Acht lassen sollten und umgekehrt, dürfen wir uns nicht der Einsicht verschließen, dass ein humanes Leben heute nicht mehr ohne Berücksichtigung der globalen und europäischen Dimensionen der ökonomischen und kulturellen Entwicklung gelebt werden kann. Bei dem Entwurf unserer Pläne für die Zukunft können wir nicht mehr allein in unser unmittelbares Umfeld oder höchstens nach ganz Deutschland schauen, sondern wir sollten auch an die Humanistinnen und Humanisten in den vielen Ländern denken, in denen die Ideale des Humanismus und der Aufklärung noch weniger verwirklicht sind als hierzulande.

Wir wissen, dass wir für diese Ziele auch unter religiösen Menschen Unterstützung finden. Und wir wissen auch, dass Aufklärung und „Humanisierung“ gesellschaftlicher Verhältnisse eine wesentliche Bedingung dafür sind, die großen Krisen bewältigen zu können, vor denen die Menschheit heute steht. Hier müssen und können wir auch religiöse  Menschen als Bündnispartner gewinnen.

Unsere Frage braucht daher nicht länger lauten, ob das 21. Jahrhundert religiös oder ungläubig sein wird, sondern ob die Menschheit und unsere Gemeinschaft, die ihren Nächsten auch aus der Ferne sieht, den Willen und die Mittel hat, sich weiter eine Zukunft durchzusetzen und damit für die Menschheit eine  „humanistische Heimat“ zu finden. Und es stellt sich eben ganz schlicht die Frage, was wir als praktische Humanistinnen und Humanisten dazu werden beitragen können.

Frieder Otto Wolf, am 14. Januar 2013 in Berlin

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