Religionskritik ist immer noch nötig

Frieder Otto Wolf: Humanistinnen und Humanisten müssen Tendenzen, die freiheitliche und offene Gesellschaft gesetzlich oder medial zu erodieren, entschieden Widerstand leisten.

Der Präsident des Humanistischen Verbandes spricht im Interview über die heutige Relevanz von humanistischer Religionskritik sowie seine Sicht auf Schwerpunkte bei der Arbeit an aktuellen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen.

Vor zehn Jahren ist das wohl erfolgreichste religionskritische Buch der letzten Jahrzehnte, „Der Gotteswahn“ von dem britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, erschienen. Die kritische Auseinandersetzung mit Religionen bildet eine der Traditionslinien unseres Humanismus-Verständnisses, obgleich sie nicht die wichtigste unter den vielen anderen ist. Trotzdem bietet solch ein Jubiläum die Gelegenheit, über einige darauf bezogene Fragen zu diskutieren: Welche gesellschaftliche, kulturelle oder politische Relevanz hat Religionskritik derzeit aus humanistischer Perspektive? Wie aktuell ist Religionskritik à la Dawkins‘ „Gotteswahn“? Zieht Säkularisierung stets unmittelbar Humanisierung nach sich?

Frieder Otto Wolf: Für einen reflektierten und der eigenen keineswegs widerspruchsfreien Geschichte bewussten Humanismus bleibt die kritische Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen – darunter auch denen, die auf unterschiedliche Weise „religiös“ sind – eine Kernaufgabe. Denn nur in der Auseinandersetzung mit den Fragen und Thesen anderer kann es uns gelingen, uns selber darüber klar zu werden, was wir wirklich als sinnvoll und tragfähig in der Orientierung unserer Lebenspraxis ansehen. Außerdem hat hierfür die Kritik an den jeweiligen etablierten Religionen, die auf unterschiedliche Weise den Versuch machen, das Denken der Menschen zu reglementieren und Andersdenkende auszugrenzen und zu verfolgen, immer noch eine zentrale Bedeutung. Hier in Deutschland muss das selbstverständlich immer noch die Kritik an Privilegien der christlichen Kirchen miteinschließen, etwa im Bereich des Arbeitsrechts, der bevorzugten Einbindung durch Politik und Medien oder auch bei der Kirchensteuer.

Dawkins‘ Kritik an dem Grundgedanken des Monotheismus ist hier allerdings nur begrenzt hilfreich: Einerseits rennt er offene Türen ein – welcher gebildete Europäer behauptet denn etwa noch allen Ernstes, es gäbe wissenschaftliche Grundlagen für die theologische Konzeption des Monotheismus? Andererseits geht er an dem Phänomen der Religionen weitestgehend vorbei: Bei aller Unterschiedlichkeit – seriöse Religionswissenschaftler halten es inzwischen für unmöglich, einen allgemeinen Begriff der Religion zu formulieren – dürfte es auch keine Religion geben, für die das in ihr vermittelte „Weltbild“, und zwar als eine wissenschaftlich bestandsfähige Beschreibung der Welt, in der wir leben, wirklich von zentraler Bedeutung ist.

Sondern?

Viel wichtiger ist der Sinneffekt, der durch eine Erzählung als Inszenierung produziert wird – wobei es dann allerdings keines mit den Erkenntnissen der Wissenschaften konkurrierenden Wahrheitsanspruchs bedarf: Es geht eben um eine „höhere“ bzw. „tiefere“ Wahrheit und nicht um die tagtäglichen Tatsachen.

In Religionen geht es in den unterschiedlichsten Formen immer wieder um Riten und Mythen – wobei der positivistische Gedanke, die Mythen als sinnstiftende Erzählungen würden sich durch die Erkenntnisse der Wissenschaften gleichsam von selber erledigen, inzwischen von der historischen Erfahrung widerlegt ist. Und in der Religionskritik muss es daher immer auch darum gehen, deutlich zu machen, dass gerade diese Riten und Mythen oftmals auf einer die Möglichkeiten sinnvollen Lebens verengenden etablierten traditionellen Sichtweise beruhen, die es zu überwinden gilt.

Den modernen, praktischen Humanismus zeichnet es meiner Auffassung nach aus, dass er demgegenüber in der Lage ist, im Diskurs der Humanistinnen und Humanisten jeweils trag- und bestandsfähige Alternativen der sinnvollen Lebensführung und etwa auch der Feierkultur zu entwickeln und anzubieten.

Ich denke, Dawkins leistete also eher dazu einen Beitrag, die noch ziemlich archaischen Geltungsansprüche einiger religiöser Diskurse als solche zu erschüttern, wie sie in großen Teilen der Welt – allem Anschein nach auch in den USA – immer noch nicht vor der modernen wissenschaftlichen Bildung zurückgewichen sind.

Welche Relevanz hat Religionskritik heute hierzulande?

In Europa ist Religionskritik in diesem von mir skizzierten weiteren Sinne ebenfalls immer noch eine zentrale Aufgabe. Nur sollte sie weder in der Illusion befangen bleiben, in der Religion ginge es in erster Linie um archaische und obsolete Weltbilder, für deren Zurückdrängung keine größere intellektuelle Anstrengung nötig ist – noch auch, dass eine Zurückdrängung der etablierten Religionen (und von Religion überhaupt) bereits gleichbedeutend mit einer Humanisierung des Denkens sei.

Im Gegenteil ist im 20. Jahrhundert deutlich geworden, dass eine Zurückdrängung des Einflusses der etablierten Religionen keineswegs der Sache nach unmittelbar mit einer Humanisierung der Verhältnisse einhergeht und dass explizit säkulare Regime durchaus schlimmster Verbrechen gegen die Menschlichkeit fähig sind.

Welcher Schluss müsste Ihrer Ansicht nach daraus folgen?

Der moderne praktische Humanismus hat auch diese historischen Erfahrungen verarbeitet – indem er zum einen die vorgängige humane Praxis und das humanistische Engagement als Voraussetzungen des eigenen Denkens ernst nimmt und zum anderen die Aufgabe einer positiven Artikulation der Prinzipien und Orientierungen, die einer sinnvollen Lebensführung und einem humanistischen Engagement zu Grunde gelegt werden können, übernimmt. Und ich denke auch, dass wir im Recht sind, wenn wir den Anspruch erheben, dass unsere weltanschaulichen Überzeugungen dazu in der Lage sind, als eine gemeinsame Grundlage, als ein umfassender Rahmen für alle Weltanschauungen und Religionen zu dienen, die beanspruchen können, sich auf der Grundlage moderner demokratischer Gesellschaften und Staaten zu bewegen.

Das nimmt uns nicht die Aufgabe, an dieser Artikulation kritisch immer wieder neu und immer wieder weiterzuarbeiten. Aber es sollte uns doch davon abhalten, unseren Humanismus als eine „allzu vollständige Weltanschauung“ (Brecht) ausarbeiten zu wollen, welche dann unsere eigene, traditions- oder vereinsmäßige Besonderheit ausmachen würde. In diesem Sinne kann der moderne praktische Humanismus keine „Konfession“ sein – auch wenn er selbst auf einer positiven weltanschaulichen Überzeugung beruht und immer dazu bereit sein wird, alle anderen Konfessionen zu respektieren, die sich in dem Rahmen des menschheitlichen Selbstverständnisses bewegen, an dessen Artikulation er selber arbeitet .

Welche wichtigen Entwicklungen sehen Sie, wenn Sie nun auf das vergangene Jahr zurückblicken?

Hier muss ich wohl vorab darauf hinweisen, dass im vergangenen Jahr die komplexe Krise, von der wir schon seit 2008 reden müssen, ganz massiv in der Politik und im Alltag angekommen ist – und dies nicht nur in Deutschland. Und unter vielen Themen, die anzusprechen sinnvoll wäre, will ich hier aber nur drei erwähnen:

Erstens und weil dies zumeist vergessen wird, möchte ich zuerst die Verarmung und Prekarisierung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung ansprechen, wie sie nach meiner politisch-ökonomischen Überzeugung durch die auch durch die Krise nicht erschütterte neoliberale Orientierung der Politik produziert wird. Hier halte ich es für richtig und für schwer zu bezweifeln, dass die Einführung eines Mindestlohns in Deutschland eine kleine Trendwende hat einleiten können, die es zu verteidigen und weiter voranzutreiben gilt. Mir ist bewusst, dass wir als organisierte Humanistinnen und Humanisten die Debatte im sozialen und ökonomischen Bereich noch nicht hinreichend entwickelt haben, um in dieser Hinsicht wirklich aktiv zu werden. Immerhin beteiligen wir uns inzwischen an entsprechenden Bündnissen.

Zweitens, zur Flüchtlingspolitik: Der humane Skandal, dass Europa unter deutscher Beteiligung  auf den Zustrom von Flüchtlingen aus Erdgegenden, in denen sie nicht mehr leben konnten – auch weil europäische und deutsche Politik hier zumindest dazu beigetragen hatten, die Verhältnisse durch Verelendung und Krieg unerträglich werden zu lassen – mit tödlicher Abweisung in der Art von Frontex reagierte, ist beendet worden. Mit Angela Merkels „Wir schaffen das!“ ist weit über Deutschland hinaus ein Prozess in Gang gekommen, die Geflüchteten human aufzunehmen – wie dies einem elementaren Menschenrecht entspricht. Und unser Berliner Landesverband hat damit begonnen, durch Übernahme eines Flüchtlingsheims an der Bewältigung dieser großen und noch längst nicht abgeschlossenen Aufgabe mitzuarbeiten. Damit ist organisierter Humanismus in Deutschland in der politischen Gegenwart angekommen: Er nimmt zu einer der großen Fragen unserer Zeit Stellung und leistet zugleich ganz praktische Hilfe – genau dadurch wird unser Verband als Weltanschauungsgemeinschaft sichtbar und eben nicht nur als „Sozialbetrieb“, wie dies in offenbar despektierlicher Absicht formuliert worden ist.

Drittens: Wer von der gegenwärtigen Lage spricht, darf vom Krieg nicht schweigen. Hier müssen wir festhalten, dass der Krieg wieder näher gerückt ist. Anstatt nur in exotischen „failed states“ wie Somalia stattzufinden, hat er Mittelmeeranrainerstaaten wie Libyen oder große Staaten des Nahen Ostens wie Syrien erreicht und zerstört. Der im Nahen Osten entstandene IS trägt seinen Krieg mit Anschlägen bis nach Europa hinein. Gleichzeitig ist die Ukraine zum Schauplatz eines Krieges geworden, in dem es ebenso um demokratische Selbstbestimmung wie um globalpolitische Einflusszonen geht.

Was können wir denn hier tun?

Unsere Möglichkeiten, demgegenüber darauf zu bestehen, dass dauerhafte Lösungen nur friedliche Lösungen sein können, sind leider äußerst begrenzt. Sie sind aber dennoch wichtig – und sei es nur, um den schwierigen Versuchen, diplomatische Verhandlungslösungen zu finden, politisch den erforderlichen langen Atem zu verleihen.

Als Humanistinnen und Humanisten stehen wir in allen diesen Bereichen selbstverständlich vor der Frage, was wir überhaupt tun können und was uns das überhaupt angeht. Ich denke, es muss uns angehen, weil es die Menschen als Menschen und die Menschheit als Menschheit angeht. Und wir können hier immer das tun, was in den 1980ern die westeuropäische Friedensbewegung gefordert hat – nämlich bei uns selber anfangen. In unserem praktischen Engagement und in unserer Kritik eines Denkens, das diese Krisen ignoriert oder verschärft.

In Deutschland hat es im vergangenen Jahr auch politische Rückschläge gegeben, etwa im Rahmen des im November von einer Bundestagsmehrheit beschlossenen Suizidhilfe-Verbots. Warum konnten sich in diesem Streit die humanistischen, d.h. klar auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen hin orientierten, Positionen nicht durchsetzen?

Ich neige zu der Auffassung, dass hier unser politisches System mit Verzögerung reagiert: Überdurchschnittlich viele Politikerinnen und Politiker tendieren immer noch zu der Auffassung, dass ohne religiöse Grundlagen die gesellschaftliche Moral zerfallen muss. Das ist eine falsche Reaktion auf die Nacht des 20. Jahrhunderts, an der bekanntlich religiöse ebenso wie nichtreligiöse Menschen, fanatische Katholiken und Protestanten ebenso wie Atheisten aktiv beteiligt gewesen sind, aber sie ist doch verbreitet.

Die Kritikerinnen und Kritiker des geplanten Verbots haben vermutlich nicht nur den taktischen Fehler gemacht, sich nicht rechtzeitig auf eine mehrheitsfähige Minimalposition zu einigen, sondern sie haben auch zum Teil den strategischen Fehler begangen, sich nicht klar von einer Heroisierung der Selbsttötung abzusetzen, wie dies eine gewisse philosophische Traditionslinie spätestens seit Seneca propagiert hat und die dann in die Tradition der Freidenker mit eingegangen ist.

Das Selbstbestimmungsrecht der Individuen darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass unerträgliche Lebenslagen gleichsam dadurch irgendwie akzeptabel gemacht werden, dass die Freiheit gewährt wird, sich ihnen durch Selbsttötung zu entziehen.

Stattdessen muss man sich darum kümmern, dass derartige Situationen, in denen verzweifelte Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, ganz grundsätzlich vermieden werden. Ich denke, das schließt auch die Notwendigkeit entsprechender psychotherapeutischer Angebote mit ein. Sicherlich gibt es dann auch noch einen Bereich, in dem wirklich „freiwillensfähige“ Menschen zu dem wohl überlegten Schluss kommen, dass für sie ein Weiterleben keinen Sinn mehr macht. Und für diesen Bereich muss in der Tat weiter dafür gestritten werden, dass ein Suizid auch mit entsprechender kompetenter Hilfe wieder möglich wird. Insofern darf die Debatte um die Selbstbestimmung am Lebensende mit der Verabschiedung des Gesetzes nicht als beendet gelten.

Wo werden nun die Prioritäten des Humanistischen Verbandes in den kommenden Monaten liegen?

Wir werden daran arbeiten, in Kooperation mit unseren großen Landesverbänden und der Humanistischen Akademie unsere klaren humanistischen Positionen in laufenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu den unterschiedlichen Dimensionen der gegenwärtigen Krisen zur Geltung zu bringen. Ferner werden wir daran arbeiten, unser neues humanistisches Selbstverständnis in der internen Diskussion zu vertiefen. Nicht zuletzt werden wir uns auch verstärkt darum bemühen, als Bundesverband im politischen Spektrum der Bundestagsparteien als weltanschaulicher Ansprechpartner nicht nur fachlich – also etwa in Bezug auf die ethisch-weltanschaulichen Fragen, die sich zu Ende und zu Anfang des menschlichen Lebens stellen, oder bildungspolitisch –, sondern auch allgemeinpolitisch im Hinblick auf die grundgesetzlich gebotene Gleichbehandlung von religiösen und nichtreligiösen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen und anerkannt zu werden. Wir haben da in den letzten Jahren durchaus gute Fortschritte machen können. Diese wollen wir ausbauen.

Vor kurzem veröffentlichte Ihr 2010 zurückgetretener Amtsvorgänger Horst Groschopp einen Kommentar, in dem er behauptete, der Humanistische Verband stünde vor einer neuen Wende, und mit Berufung auf ein Brecht-Stück dem vom Verband herausgegebenen Magazin „diesseits“ prognostizierte, zu erwarten sei bald „der totale Umschwung“. Was ist von den Äußerungen zu halten?

Ich finde das richtiggehend tragisch, doch ich sehe keinerlei sachliche Grundlage für seine Fantasien. Horst Groschopp hat sich große Verdienste um den organisierten Humanismus in Deutschland erworben. Und jetzt geht er hin und erzählt vom Pferd. Sicherlich hatte er sich schon mit der These von der „Dritten Konfession“ ein bisschen vergaloppiert. Doch jetzt scheint er schlicht den Kontakt zur wirklichen Entwicklung verloren zu haben. Abgesehen davon, dass er außer vagen Spitzen gegen den „praktischen Humanismus“ nichts darüber zu sagen weiß, welche inhaltliche Entwicklung des Humanistischen Verbandes er problematisch findet, hat er offenbar völlig vergessen, dass es für den modernen Humanismus geradezu konstitutiv ist, dass er ein bestimmtes Theorie-Praxis-Verhältnis pflegt.

Und dass er das Engagement in der Arbeit für die Aufnahme von Geflüchteten, in dem ich geradezu eine dringend notwendige politische Zuspitzung eines wirklich gegenwärtigen Humanismus sehe, einfach nur unter „Sozialbetrieb“ subsumiert, lässt mich politisch erschrecken!

Worauf fußen diese Deutungen, die nun von einer immerhin schon vor sechs Jahren aus der unmittelbaren Bundesverbandsarbeit ausgeschiedenen Persönlichkeit in die Welt gesetzt wurden?

Ich halte dies für wirklich willkürliche Deutungen, also für isoliert und im kleinen Kämmerlein ausgedachtes Zeug. Die Grundlage dafür besteht vermutlich in erster Linie in subjektiver Frustration und in Vorurteilen, die sich zum Teil auf kulturwissenschaftliche Vorannahmen und zum Teil auf traditionelle, freidenkerische „fixe Ideen“ zurückführen lassen, wie etwa der Gedanke, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als solche bereits sinnvolle Orientierungen und damit Aufklärung im vollen Sinne des Wortes ergäben. Auch wenn Horst Groschopp dabei immerhin das Verständnis des Wissenschaftsbegriffs bis hin zu den Kulturwissenschaften erweitert: Humanistische Orientierung braucht zwar wissenschaftliche Erkenntnisse, sie geht aber darüber hinaus, indem sie in einem gemeinsamen Diskurs Sinn stiftet.

Unter anderem hieß es in dem Kommentar, das neuentwickelte Selbstverständnis sei ein untauglicher Versuch, unser Humanismus-Verständnis aus der zunehmenden Zahl konfessionsfreier Menschen abzuleiten und auf praktischen Humanismus zu beziehen. Können Sie diese massive Kritik in irgendeiner Weise nachvollziehen?

Leider kann ich das überhaupt nicht nachvollziehen: Aus der zunehmenden Zahl konfessionsfreier Menschen in Deutschland – nicht zu vergessen die vielen durchaus konfessionsfrei Denkenden, die formal noch Religionsgemeinschaften angehören – ergibt sich doch gar nichts für die inhaltliche Ausarbeitung unserer humanistischen Positionen und praktischer Humanismus ist eben mehr als bloß humanistische Praxis: Er artikuliert – wenn man möchte, ganz „theoretisch anspruchsvoll“ –­, was in humanistischer Praxis unterstellt und praktisch vollzogen wird. Das ist schon der Mühe wert und produziert wertvolle Ergebnisse, die in einem Dialog der – religiösen und nichtreligiösen – Weltanschauungen dann wirkliches Gewicht entfalten können.

Kommen wir zurück zu den ernstzunehmenden Problemen, die sich jetzt aus unserer Perspektive stellen. Da haben wir natürlich unter anderem die systematische Benachteiligung der nichtreligiösen Menschen in Deutschland, dies wird den Verband als politische Aufgabe wohl noch lange beschäftigen.

Beim Thema der Gleichberechtigung haben wir es mit einem doppelten Problem zu tun, denke ich: Neben die traditionelle Privilegierung der christlichen Kirchen – die dann nach der Schoah auf die jüdischen Gemeinden ausgedehnt worden ist und nach der Einwanderung vieler Muslime gegenwärtig auch auf islamischen Zusammenhänge ausgedehnt werden soll – ist noch der Gedanke getreten, dass die Nacht des 20. Jahrhunderts, d.h. Schoah, Völkermorde, zwei Weltkriege, Atombombe und anderes, irgendwie mit der Abkehr von der Religion zu tun habe. Das sollten wir nicht mit einem Schulterzucken abtun, auch wenn es falsch ist, sondern vielmehr sorgfältig dagegen argumentieren, dass zum einen Religion keineswegs vor einem aktiven Mittun bei Völkermord und Aggressionskrieg bewahrt hat und zum anderen auch für viele Menschen ein kritischer Humanismus Grundlage ihres Widerstandes gewesen ist.

Deswegen ist eben immer zu unterscheiden zwischen Positionen einer aufgeklärten Religion, die wir als solche respektieren, und allen Versuchen, im Namen der Religion gegen Aufklärung und Befreiung vorzugehen. Es ist zudem kein Geheimnis, dass im Widerstand gegen inhumane und antihumane Entwicklungen durchaus auch religiöse Menschen eine wichtige Rolle spielten und spielen, mit denen wir uns hier verbünden können und sollten. Und umgekehrt sollten wir auch nicht verdrängen, dass atheistisch denkende Menschen es in der Vergangenheit für richtig gehalten haben, derartige Tendenzen aktiv zu unterstützen, und dies immer noch tun.

Gibt es noch andere Bereiche, die derzeit ebenfalls hohe Priorität haben bzw. haben müssten?

Die umfassende ökologische Krise, in die sich die Menschheit zu Beginn des Anthropozäns hineinmanövriert hat, ist in der letzten Zeit von anderen Krisenerscheinungen in den Hintergrund gedrängt worden. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dass hier immer noch eine langfristig voranschreitende Krise ohne gründliche Lösungen geblieben ist. Immerhin hat der Pariser „Klimagipfel“ zumindest einen Rahmen dafür geschaffen, in weiteren Auseinandersetzungen eine wirksame globale Politik zur Eindämmung der drohenden Erwärmung der Erdatmosphäre durchzusetzen. Doch dies allein genügt sicherlich nicht, um unseren Planeten als lebensfreundlichen Ort im Universum zu erhalten, an dem die Menschheit als Gemeinschaft selbstbestimmter Individuen friedlich weiterexistieren kann. Hier die dringend notwendige Aufklärung – und natürlich auch eigene Denkarbeit – zu leisten und das Bewusstsein von Mitmenschen zu bilden, sollte uns Humanistinnen und Humanisten eine wichtige Aufgabe sein.

Aber auch ganz schlicht alltäglich – und leider gerade sehr aktuell – bleibt die Diskriminierung von Frauen bis hin zur sexualisierten Gewalt ein zentrales Thema, bei dem wir als organisierte Humanistinnen und Humanisten – in unserem eigenen Leben und durchaus auch auf allen Ebenen in unseren Angeboten als Verband – Partei ergreifen müssen. Das ist auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder von Bedeutung – von den Aufmärschen fanatischer Abtreibungsgegner bis hin zu der von rechten Populisten betriebenen Erneuerung des repressiven Bildes von „der deutschen Frau“.

Und schließlich müssen wir auch im Blick behalten, dass der rechtspopulistische und teils deutlich reaktionäre Ruck in den europäischen Gesellschaften als eine Folge sich zuspitzender Krisen noch längst nicht an seinem Ende angekommen ist. Den darauf fußenden Tendenzen und Versuchen, unsere freiheitliche und offene Gesellschaft auf gesetzlicher oder medialer Ebene zu erodieren, wie wir sie derzeit auch in unserem Nachbarland Polen beobachten, müssen wir weiterhin ganz entschieden Widerstand leisten.

Am Anfang sprachen wir über die heutige Relevanz von Religionskritik. Kann diese eine Rolle bei den beiden von Ihnen zuletzt genannten Themen spielen und falls ja, welche?

Durchaus – aber eben nicht als Kritik an Religion im Allgemeinen, sondern als Kritik an bestimmten religiösen Vorstellungen und Konzeptionen: also etwa in Gestalt der resignativen, jegliche Verbesserung und sogar jedwede Abwehr von Verschlechterungen von vorneherein aufgebende Abwertung unserer historisch gegebenen Verhältnisse als „Jammertal“ oder unserer natürlichen Existenz als Lebewesen durch die Lehre von der „Erbsünde“, der einseitigen „Heiligung“ patriarchalischer Haltungen und Strukturen oder auch der Verharmlosung oder gar Heroisierung des Todes.

Und es geht dabei eben nicht nur um die sich aktuell zuspitzenden und in den medialen Vordergrund drängenden „großen Fragen“ – es geht auch ganz schlicht um Fragen der alltäglichen Lebensführung, wie des pfleglichen und sorgsamen Umgangs mit natürlichen und sozio-kulturellen Ressourcen, des Lebens in emanzipierten Geschlechterverhältnissen und des emanzipatorischen Umgangs mit „fremden“ und „eigenen“ Kindern. Und da ist Religionskritik in dem soeben umrissenen Sinne leider immer noch dringend nötig.

Die Fragen stellte Arik Platzek.

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