„Die Fragen zur Gerechtigkeit neu stellen“

Grußwort von Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbands Deutschlands

Liebe Humanistinnen und Humanisten, liebe Freunde und Mitmenschen!

Die schönste Frucht der Gerechtigkeit ist Seelenfrieden, meinte der Philosoph Epikur.[1] Da nun erneut Tage vor uns liegen, die uns Gelegenheit zum Nachdenken über den Seelenfrieden oder das Glück einer solchen Empfindung geben können, darf ich mich mit einigen Worten an alle Menschen wenden, die sich unseren gemeinsamen Ideen und unserer Gemeinschaft nahe fühlen oder ihr besonders verbunden sind. Ich erkenne, dass das Streben nach Gerechtigkeit und Seelenfrieden zwei der Motive sind, die uns verbinden, einander nahe sein lassen und ein gemeinsames Handeln möglich machen.

Bevor ich jedoch weitere Gedanken dazu vorstellen werde, sehe ich mich als Präsident des Humanistischen Verbands Deutschlands auch – losgelöst von den Tagesgeschäften unseres Bundesverbandes und seines Präsidiums – in der schönen Pflicht, meine Dankbarkeit auszudrücken. Sowohl den Humanistinnen und Humanisten in unserem Verband, wie auch vielen anderen Menschen, die sich im vergangenen Jahr unsere Anliegen, Ideen und Ziele bewusst gemacht haben, die sie unterstützten und förderten, sie praktisch gelebt oder in ihrem Geist gehandelt haben. Dieses vielfältige Engagement ist ein Schatz für alle Menschen!

Das gemeinsame und stetige Bemühen hat nicht zuletzt auch meine Verantwortung und meine innere Überzeugung, dass in der Gegenwart Humanismus denkbar, machbar und erlebbar ist, mit dieser laut Epikur schönsten Frucht der Gerechtigkeit beschenkt. All dem aufrichtigen und ernsthaften Streben für den Humanismus, das ich schon sehen durfte oder noch nicht entdecken konnte, möchte ich auch weiter meine Kraft und Aufmerksamkeit widmen.

Die schönste Frucht der Gerechtigkeit ist Seelenfrieden, so nun einst Epikur. Der Frieden der Seele, der Frieden in der Seele oder für die Seele – viele Namen existieren für das, was die Zufriedenheit des Gemüts, den Einklang unserer Kräfte oder die innere Harmonie von Herz und Verstand verständlich machen sollen. Ich darf feststellen, dass es ein natürliches Bedürfnis und legitimer Wunsch jedes Menschen ist, Seelenfrieden zu gewinnen.

Und das heißt keineswegs, dass sie oder er bloß die Augen schließen, alle Sorgen vergessen und sich möglichst satt zurücklehnen möchte. Vielmehr gehört das klare Bewusstsein dazu, was alles zu tun ist – und dass Mensch das seine dazu beiträgt, dass es getan wird. Die besonderen Tage der Feiern und Besinnlichkeit um die Wintersonnenwende und das Jahresende sollten auch möglichst vielen von uns die Gelegenheit zum Gewinn von Seelenfrieden bieten, indem wir Abstand gewinnen und uns bedenken, ohne vor unseren Problemen und Aufgaben zu fliehen. Doch wie kann das gelingen?

Vom Frieden und innerer Harmonie sprach ebenfalls ein Beschluss, der auf dem diesjährigen 18. Weltkongress der Humanistinnen und Humanisten in Oslo gefasst wurde. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, hieß es in der gemeinsam verabschiedeten Osloer Erklärung zum Frieden[2] und weiter: „Frieden erfordert Respekt für den Wert und die Würde jedes unserer Mitmenschen, Toleranz unter den Individuen und Harmonie in jeder Person.“

Harmonie in jeder Person – etwas dem epikureischen Seelenfrieden Gleiches oder jedenfalls sehr nah Verwandtes wäre also eine Voraussetzung für den von uns erstrebten umfassenderen Frieden. Sollte es ein Zufall sein, dass dieses Motiv ein Teil der Erklärung wurde? Wohl kaum!

Seelenfrieden stellt sich da nun nicht nur als beste Konsequenz einer Gerechtigkeit dar, sondern auch als eine Voraussetzung für einen umfassenderen Frieden in und zwischen den Gemeinschaften – ein für Humanistinnen und Humanisten legitimes und höchst erstrebenswertes Ziel! Wo die Zufriedenheit des Gemüts oder die Harmonie von Herz und Geist als schönste Frucht der Gerechtigkeit und als Voraussetzung allgemeineren Friedens gesehen wird – und weshalb sollten das humanistisch denkende Menschen nicht tun – gewinnt die Frage nach der Gerechtigkeit als Angelpunkt im Denken freilich eine besondere Bedeutung.

Ich möchte deshalb dazu einladen, den Gedanken über die Gerechtigkeit in den kommenden Tagen wieder neue Aufmerksamkeit zu widmen. Wir können uns mit unserer kritischen und offenen Vernunft fragen, wo und weshalb nicht verwirklichte Gerechtigkeit das Fehlen des Seelenfrieden in und des Friedens zwischen den Menschen zur Ursache hat. Fragen wir uns auch wieder einmal, wie und warum unser eigener Seelenfrieden oder der unserer Mitmenschen von einem Mangel an Gerechtigkeit bedroht oder beeinträchtigt werden kann oder wird. Fragen wir uns, wo wir mit unseren jeweils eigenen Möglichkeiten und Talenten in der kommenden Zeit eine Verbesserung und Weiterentwicklung im Sinne unserer gemeinsamen humanistischen Überzeugungen und Ideale schaffen können!

Humanistinnen und Humanisten, die sich den Blick auf die Wirklichkeit nicht verstellen lassen, kommen bei solchen Fragen heute freilich nicht umhin, die vorhandenen Unruhen oder Umbrüche in vielen Bereichen der Gesellschaft und sogar bemerkenswerte Krisen wahrzunehmen. Immer mehr Missstände werden sichtbar, im Alltag und durch die Medien.

Ich möchte deshalb an dieser Stelle auch dafür plädieren, die jetzt immer stärker sichtbar gewordenen oder noch sichtbar werdenden Widersprüche und Brüche in ökonomischen, sozialen, politischen Fragen wieder umfassend mit in die Überlegungen einzubeziehen. Fragen wir uns, was aus der humanistischen Perspektive einer Verwirklichung und Sicherung von allgemeinem Frieden zwischen den Gemeinschaften, umfassender Gerechtigkeit und innerer Harmonie für die Menschen entgegensteht und wie wir diese Blockaden oder Hürden unserer kulturellen Entwicklung gemeinsam überwinden können!

Sogar wenn die Schlussfolgerungen aus solchen Überlegungen, den Worten des Humanisten Julian Huxley entsprechend, bedeuten würden, „dass man mit der gefährlichen Gewohnheit brechen muss, jedes menschliche Produkt allein nach seiner materiellen Nützlichkeit oder nach dem Gewinn, den man daraus schlagen kann, zu bewerten.“[3] Huxley befürwortete schließlich auch den Gedanken: „Quantität materieller Produkte darf nur Mittel zum Zweck, aber nicht Selbstzweck sein.“

Die heutigen Entwicklungen zeigen nun immer stärker, dass hier letzten Endes so erhebliche und herausfordernde Problemfelder entstanden sind, wie sie Huxley schon vor rund fünf Jahrzehnten aufzeichnete. Diesen Tatsachen sollten wir uns stellen.

Die schönste Frucht der Gerechtigkeit sei der Seelenfrieden und jeder Mensch habe ein Recht darauf! Ich werde mich als Präsident im Humanistischen Verband Deutschlands weiter der Verwirklichung der Gerechtigkeit widmen, die innere Harmonie schaffen, den Frieden sichern und das Leid mindern kann. Allem aufrichtigen und ernsthaften Streben für den modernen und praktischen Humanismus will ich auch im nächsten Jahr Kraft und Aufmerksamkeit schenken. Humanistinnen und Humanisten, unsere lieben Freunde und Mitmenschen, bitte ich in diesem Sinne, jede Bemühung zu begleiten, zu erweitern und zu vervollkommnen!

Mit humanistischen Grüßen

Frieder Otto Wolf

[1] Epikur: Philosophie der Freude. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Übersetzt, erläutert und eingeleitet von Johannes Mewaldt. Kröner, Stuttgart 1973

[2] http://www.iheu.org/oslo-declaration-peace, abgerufen am 20. Dezember 2011

[3] Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus. In: Der evolutionäre Humanismus. Huxley, Julian (Hrsg.), C.H. Beck, München 1964

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