„Ich hatte bisher geglaubt, dass die Vertreter der Religionsgemeinschaften in unserem Land sich intensiver mit dem Grundgesetz wie auch der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und den auf ihr fußenden Konventionen beschäftigen, bevor sie so energisch auf das Recht der Religionsfreiheit pochen“, sagte Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, am Donnerstag in Berlin zu Reaktionen auf das umstrittene Urteil des Landgerichts Köln über die Strafbarkeit der Beschneidung von Kindern.
Das Gericht hatte entschieden, dass die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen aus rein religiösen Gründen strafbar sei. In der Begründung hieß es, im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit vorliegend die Grundrechte der Eltern. Ihre Religionsfreiheit und ihr Erziehungsrecht würden nicht unzumutbar beeinträchtigt, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich das Kind später selbst für eine Beschneidung entscheidet.
Frieder Otto Wolf begrüßte die nun entstandene „wichtige Debatte“ zur kontroversen Entscheidung, die einen guten Anstoß für das Nachdenken über grundsätzliche Fragen bieten könne.
Er drückte zugleich sein Befremden über die harschen Reaktionen seitens der Religionsgemeinschaften aus, die das Gerichtsurteil reflexartig und mit Berufung auf die Religionsfreiheit und ein über das staatliche Gesetz hinausreichendes Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ablehnten.
„Mit welchem Furor sich die Kritik im nationalen und internationalen Rahmen schon kurz nach der Entscheidung entzündet hat, hat mir deutlich zu denken geben“, sagte Wolf. „Es lässt mich kaum glauben, dass man sich ergebnisoffen und intensiv mit der Frage beschäftigt hat, ob das Urteil im Sinne unseres Grundgesetzes und der für alle Kinder gleichermaßen geltenden Rechte die richtige Entscheidung sein könnte.“
Frieder Otto Wolf sagte weiter, dass die Ausübung einer aufgeklärten Glaubenspraxis seiner ersten Einschätzung nach durch dieses Gerichtsurteil nicht gravierend gefährdet sei und verwies dabei auf die Existenz von Gruppen innerhalb des Judentums und des Islams, die eine Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Jungen nicht als Pflicht ansehen oder überhaupt nicht praktizieren.
„Keinem erwachsenen Menschen sollte verboten sein, sich nach reiflicher Überlegung die Vorhaut seines Gliedes entfernen zu lassen, um die Zugehörigkeit zu einer ihn überzeugenden Religion kenntlich zu machen“, betonte Wolf. Im Lichte der Befunde von wissenschaftlichen Untersuchungen gebe es sogar durchaus plausible Gründe dafür, dass sich erwachsene Männer mit den gesundheitsförderlichen Aspekten einer Vorhautentfernung beschäftigen. „Klar ist dabei jedenfalls, dass die Entfernung der Vorhaut eines männlichen Gliedes nicht pauschal mit der Genitalverstümmlung bei Mädchen und Frauen gleichgesetzt werden kann, die auf der Welt vorzufinden ist.“
Frieder Otto Wolf erinnerte auch daran, dass die durch das Grundgesetz gewährleistete Ausübung der Religion in erster Linie als Schutzrecht für jedes Individuum gelte. Nicht anders sei die Lage beim Blick auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die Konventionen über die Rechte des Kindes, so Wolf.
„Und wenn es auch in Zukunft so sein soll, dann müsste auch ernsthaft nachgedacht werden können, ob die Zugehörigkeit zu einer die Beschneidung des männlichen Gliedes verlangenden Religion nicht in einem Alter vollzogen werden kann, in dem Individuen zu einer Mitbestimmung über körperliche Eingriffe in der Lage sind.“
Und obwohl die Evangelische Kirche in Deutschland das Urteil kritisiert hatte, habe laut Wolf die Entwicklung der evangelischen Theologie beispielhaft gezeigt, dass zuvor für unmöglich gehaltene Veränderungen in der Glaubenspraxis möglich seien. „Davon profitieren heute viele engagierte Gläubige, die in anderen Konfessionen ohne gute Gründe immer noch benachteiligt werden, denen fundamentale Rechte nicht zuerkannt werden oder die man wegen ihrer Glaubenspraxis sogar sanktioniert.“
Schließlich warnte Wolf davor, die neu entstandenen Fragen durch den forcierten Erlass neuer Gesetze klären zu wollen. „Es gibt ohnehin immer noch große Defizite in der Neutralität der Bundesrepublik Deutschland gegenüber religiösen und weltanschaulichen Gruppen, mit erheblichen Privilegierungen zugunsten einzelner Konfessionen.“
Ein weitergehender Rückbau des säkularen Rechtstaates könne aus humanistischer Perspektive nicht unterstützt werden, betonte Wolf. Die Rufe nach Rechtssicherheit für die Gläubigen seien zwar berechtigt, doch der Ruf nach Selbstbestimmung für Kinder sei das ebenfalls. „Bevor über den Rückbau des säkularen Rechtstaates abgestimmt wird, sollten wir zunächst über die Rechte der Kinder und andere grundsätzliche Fragen einen ergebnisoffenen Diskurs führen.“