Ambivalentes BGH-Urteil zur Suizidhilfe: Humanistischer Verband verlangt klare Grenze zwischen Suizidhilfe und Fremdtötung

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Erwin Kress

Vorstandssprecher des Bundesverbandes

Karlsruhe-Bundesgerichtshof-04-2018-gje
Ein aktueller Beschluss des Bundesgerichtshofs könnte über den Fall hinaus eine Grenzverschiebung bedeuten: Der BGH sprach eine zunächst verurteilte Frau frei, obwohl sie ihrem chronisch schwerkranken Mann eine tödliche Insulindosis gespritzt hatte. Zuvor hatte dieser eigenständig sämtliche im Haus verfügbaren Tabletten eingenommen, um sein Leben zu beenden. Der Vorstandssprecher des HVD Bundesverbandes, Erwin Kress, sieht in dem Grundsatzurteil des BGH ein „zweischneidiges Schwert“, da es einerseits das Selbstbestimmungsrecht stärke, andererseits aber „Beihilfemissbrauch“ Vorschub leisten könnte.

Die Frau war erstinstanzlich vom Landgericht Stendal wegen Tötung auf Verlangen (§ 216 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt worden. Die ehemalige Krankenschwester hatte ihrem schwerkranken Mann im Jahr 2019 nach dessen mehrfach geäußertem Sterbewillen und auf seine Bitte hin eine tödliche Überdosis Insulin  verabreicht, da dieser dazu krankheitsbedingt nicht in der Lage war.

BGH sieht keinen Straftatbestand

Der Bundesgerichtshof in Leipzig hat die Frau nun freigesprochen: Das Handeln der Angeklagten, so das Urteil, stelle sich „nicht als Tötung auf Verlangen ihres Ehemanns durch aktives Tun, sondern als straflose Beihilfe zu dessen Suizid dar“. Denn angesichts des vom Ehemann langfristig geplanten Vorhabens und festen Entschlusses könne eineAbgrenzung „nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden“, so der richterliche Beschluss. Geboten sei „vielmehr eine normative Betrachtung“ des Gesamtgeschehens. Eine wertende Betrachtungsweise führe im konkreten Fall dazu, dass nicht die Angeklagte, sondern ihr Ehemann das zum Tode führende Geschehen beherrscht habe.

Der Sprecher des Humanistischen Verbandes Deutschlands Bundesverband, Erwin Kress, hält die Abwägung zwischen „naturalistischer Unterscheidung“ und „normativer Betrachtung“ in der Praxis für schwer verständlich und schlecht nachvollziehbar. Insgesamt bezeichnet er die Entscheidung des BGH als „zweischneidiges Schwert“. Auf der einen Seite sieht er darin eine Stärkung des Selbstbestimmungsrechts: Jeder entscheidungsfähige Mensch hat das Recht, freiwillig aus dem Leben zu scheiden und dafür auch Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch zu nehmen. „Dies sollten sich alle Bundestagsabgeordneten nochmals vor Augen halten, die jetzt wieder eine Beschneidung dieses Rechtes im Strafgesetzbuch verankern wollen“, forderte Kress mit Blick auf die vorliegenden interfraktionellen Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Suizidhilfe.

Zugleich kritisiert Kress das Urteil: „Der Bundesgerichtshof hat die eindeutige Grenze zur Tötung auf Verlangen durchlässig gemacht, zumindest eine Interpretation ermöglicht, wann die Selbsttötung endet und die Fremdtötung beginnt.“

Klare Abgrenzung zwischen Fremdtötung und straffreier Suizidhilfe nötig

Der BGH hat sich in seinem Beschluss außerdem für eine verfassungskonforme Ausnahmeregelung bei der bisherigen starren Auslegung des § 216 Abs. 1 StGB (Tötung auf Verlangen) ausgesprochen: Mit Blick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020, in welchem das „Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe“ (§ 217 StGB) gekippt wurde, äußerten die BGH-Richter*innen, dass es einer Ausnahme wenigstens bei denjenigen Fällen bedürfe, „in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden, sie vielmehr darauf angewiesen ist, dass eine andere Person die unmittelbar zum Tod führende Handlung ausführt“. Mit anderen Worten: Wer körperlich nicht dazu in der Lage sei, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, soll (straffreie) Hilfe in Anspruch nehmen dürfen.

Ein Tötungsgeschehen durch ärztliche Tatherrschaft mittels entsprechender Spritze in Gang zu setzen ist beispielsweise in den Niederlanden legal möglich. Dies hält Kress insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Euthanasiegeschichte hierzulande jedoch für „untragbar“.

Der Humanistische Verband Deutschlands erachtet das Kriterium der aktiven Tatherrschaft vielmehr für ethisch unverzichtbar und tragfähig. Denn auf dieser Grundlage kann die erlaubte Suizidhilfe von der verbotenen Tötung allgemeinverständlich unterschieden werden. Kress argumentiert zudem: „Für jeden, auch einen nahezu vollständig gelähmten Menschen, der noch einen freien Willen ausdrücken kann, gibt es Möglichkeiten und Techniken, durch seine eigene Handlung die Einnahme eines tödlichen Mittels zu starten.“ Die Hilfe beziehe sich dann nur auf die Bereitstellung, nicht auf einen Tötungsakt. „Für uns ist wichtig, dass der freiwillensfähige, zur Selbsttötung entschlossene Mensch stets die volle Tatherrschaft besitzt und Beihilfemissbrauch ausgeschlossen wird“, so Kress weiter.

Der HVD Bundesverband hatte bereits im Mai 2020 einen Entwurf für ein „Gesetz zur Bewältigung von Suizidhilfe- und Suizidkonflikten“ vorgelegt und des Weiteren im Februar 2022 entsprechende Orientierungspunkte zur Neuregelung an die Abgeordneten des Bundestages versandt.

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