Reform des Staatskirchenrechts ist dringend erforderlich

Frieder Otto Wolf: Kooperativer Laizismus ist angemessener Mittelweg zwischen „Kirchen-Kartell“ und separatistischer Verdrängung von Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften.

Im Gespräch über den ersten religionspolitischen Kongress von Bündnis 90/Die Grünen sagt der Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, eine qualifizierte öffentliche Debatte um die überfällige Entwicklung von modernen rechtlichen Verhältnissen zwischen „Staat und Religion“ habe noch gar nicht richtig begonnen.

Herr Wolf, nach dem religionspolitischen Kongress von Bündnis 90/Die Grünen legte ein Bericht der taz nahe, Sie hätten sich bei dem Kongress gegen die positive Gleichbehandlung der in Deutschland lebenden Muslime mit den Angehörigen der christlichen Religionsgemeinschaften ausgesprochen. Das steht im Widerspruch zu den von Ihnen vor dem Kongress vorgestellten Positionen.

Frieder Otto Wolf: Das habe ich auch gar nicht gesagt. Ich habe vielmehr vehement für die Gleichbehandlung von Religionen und Weltanschauungen plädiert und bin dabei auch ausdrücklich dafür eingetreten, dass es eine öffentliche Anerkennung auf gleicher Augenhöhe für alle Regions- und Weltanschauungsgemeinschaften gibt, sowie auch eine deutliche Förderung, überall dort, wo sie Beiträge zum öffentlichen Wohl leisten, wie etwa im Bildungswesen. Und ich habe auch keinen Zweifel daran gelassen, dass der Islam dazu gehört und mich von allen Versuchen distanziert, im Namen der Religionskritik eine Ausgrenzung des Islam aus der deutschen Öffentlichkeit zu betreiben und Islam, Islamismus und einen sich islamistisch legitimierenden Terrorismus gleichzusetzen. Allerdings hab ich auch davor gewarnt, dass die christlichen Kirchen den Versuch machen könnten, ihre gegenwärtigen Privilegien dadurch zu verteidigen, dass sie den Islam gleichsam in das existierende „Kartell“ mit aufnehmen.

Warum hat die Zeitung das nicht richtig dargestellt?

Ich kann da nur Vermutungen anstellen: Zum einen haben sich offenbar aufgrund des ständigen Trommelfeuers der Kirchen im letzten Jahrzehnt viele Journalisten die falsche Gleichsetzung von Laizismus und Verdrängung von Religion und Weltanschauung aus dem öffentlichen Raum im Kopf zu eigen gemacht, sodass für sie jede Kritik an den gegenwärtigen Privilegien der christlichen Kirchen in Deutschland wie eine grundsätzliche Ablehnung jeglicher Religiosität klingt; zum anderen haben sie offensichtlich keinerlei Vorstellung von nichtreligiösen Weltanschauungen, welche den Anspruch erheben, gleichberechtigt im öffentlichen Raum gehört, anerkannt und gefördert zu werden.

Aufgrund dieser beiden Voraussetzungen können einige Journalisten sich dann offenbar nur vorstellen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Kirchenprivilegien und mit den Geltungsansprüchen von Religionen auf einen skeptischen Verzicht darauf hinausläuft: überhaupt eine umfassendere Haltung zur eigenen Existenz in der Welt zu entwickeln und zu begründen, wie dies der im Grundgesetz festgehaltene, inzwischen etwas verstaubt wirkende und daher dringend theoretisch erneuerungsbedürftige Begriff der Weltanschauung meint.

In dem Bericht heißt es auch, Sie plädierten für eine stärkere Trennung zwischen Kirchen und Staat.

In der Tat tue ich das. Und das bezieht sich nicht nur auf den Reichsdeputationshauptschluss, mit dem in Deutschland als Kompensation von absolutistischem Kirchenraub dann wiederum Kirchenprivilegien festgeschrieben worden sind, und wofür es seit der Weimarer Verfassung ein bisher nicht eingelöstes Ablösungsgebot gibt. Von dem staatlichen Kirchensteuereinzug über die Seelsorge in der Bundeswehr, in den Gefängnissen und auch im Bereich der Notfallseelsorge bis hin zu den Rundfunkräten haben die christlichen Kirchen heute in einer, wie dies die Juristen mit einer treffenden Metapher bezeichnet haben, „hinkenden Trennung von Staat und Kirche“ eine Vielfalt von Privilegien. Nur ein prägnantes Beispiel: Im Land Brandenburg, dessen Bevölkerung etwa zu zwei Dritteln nichts mit den Kirchen zu tun hat, werden die christlichen Kirchen vom Staat mit zweistelligen Millionenbeträgen gefördert, während für die öffentliche Tätigkeit des Humanistischen Verbandes ein Beitrag im einstelligen Tausenderbereich zur Verfügung gestellt wird.

Wir fordern demgegenüber aber nicht die Verdrängung von Religionen und Weltanschauungen ins Privatleben. Die Wirklichkeit der programmatisch so angelegten Trennung von Staat und Religion in den USA und in Frankreich ist uns da eine Warnung: In den USA hat diese Gestalt der Trennung dazu geführt, dass die öffentliche Aufklärung und wissenschaftliche Reflexion weitgehend außerhalb der christlichen Selbstverständigung geblieben ist, sodass neben Kommerzialisierung und Sponsorenabhängigkeit offene Irrationalismen wie die des „Kreationismus“ und der sogenannten „Evangelikalen“ im christlichen Publikum freies Feld haben; in Frankreich – weniger spektakulär – zu einer verdeckten Selbstverständlichkeit des Katholizismus in der nationalen Kultur, welche kluge Leute mit dem Stichwort der „Katho-Laizität“ bezeichnet haben.

Als eine sinnvolle und realitätstüchtige Transformation des deutschen Staatskirchen-Systems in Richtung auf eine öffentliche Verfassung für Religionen und Weltanschauungen plädieren wir daher für das niederländische und belgische System des Laizismus, der nicht auf die Verdrängung von Religionen und Weltanschauungen aus der Öffentlichkeit sowie aus staatlichen Einrichtungen abstellt, sondern die gleichberechtigte Einbeziehung alles dessen praktiziert, was im deutschen Grundgesetz unter Religionen und Weltanschauungen angesprochen ist. Man kann dieses Modell, welches wir als die beste Lösung befürworten, als kooperative Laizität bezeichnen.


Frieder Otto Wolf, Sylvia Löhrmann, Volker Beck, Aiman A. Mazyek (v.l.) im Düsseldorfer Landtag. Foto: Ricarda Hinz

Können Sie kurz erklären, was mit kooperativer Laizität gemeint ist?

Diese Formulierung greift konstruktiv auf, was auf dem regionspolitischen Kongress der Grünen ein immer wieder geäußerter Grundgedanke war: Nämlich die Überzeugung, dass das Verhältnis des Staates zu Religionen und Weltanschauungen auf eine Weise zu verfassen ist, welche möglichst weitgehend gewährleistet, dass diese in öffentlicher Verantwortung und inmitten des öffentlichen Diskurses praktiziert werden. Während dieser Gedanke auf diesem Kongress aber zumeist religionspolitisch beschränkt artikuliert worden ist – immerhin hat es sich im Laufe des Kongresses offenbar durchgesetzt, zumindest verbal immer auch auf die Weltanschauungen Bezug zu nehmen –, halte ich es für notwendig, diesen Grundgedanken laizistisch zu akzentuieren: Ich halte es nicht für realitätstüchtig, in einer Gesellschaft wie der deutschen, in der die Konfessionsfreien inzwischen in weltanschaulich-religiöser Hinsicht die größte Bevölkerungsgruppe vor Protestanten und Katholiken bilden, die bestehenden, vielfältig rechtlich verankerten und in den Köpfen vieler Verfassungsrechtler immer noch als selbstverständlich artikulierten Privilegierungen der beiden traditionellen christlichen Großkirchen weiter fortzuschreiben. Auch damit die selbstverständliche Gleichbehandlung der islamischen Religionsgemeinschaften – die alevitische Regionsgemeinschaft hat hier eine auf von uns als Verband aktiv unterstützte Vorreiterrolle übernommen – im nötigen breiten Umfang durchgesetzt werden kann, ist hier eine Reform des gegenwärtigen Staatskirchenrechts zu einem öffentlichen Recht der Religionen und Weltanschauungen dringend erforderlich.

Der in Hamburg lebende Schriftsteller Simon Urban meinte ebenfalls in der letzten Woche in einem Kommentar bei ZEIT Online, die wachsende Gleichberechtigung von Muslimen sei ein zentrales Motiv für die islamfeindliche „Pegida“-Bewegung.

Ich halte dies für einen ideologischen Schein, der allerdings von der Ideologie eines Abendlandes im Zeichen des Kreuzzuges gegen den Kommunismus, dem dann zu Anfang dieses Jahrtausends in Gestalt „des Islam“ ein neues Feindbild als Existenzgrundlage verschafft worden ist, kräftig befördert worden ist.

Hier haben die sich immer noch in erster Linie „christlich“ gebenden konservativen sogenannten „Eliten“ unseres Landes einiges aufzuarbeiten und auch wieder gutzumachen. Real geht es einerseits um Abstiegsängste bestimmter Teile der Mittelschicht, sowie um das soweit durchaus berechtigte Gefühl, dass sich die Politik in einer Weise vollzieht und entwickelt, die jede demokratische Beteiligung breiterer Volksschichten mehr und mehr unmöglich macht. Daraus sind – offenbar verstärkt durch die Enttäuschung der mit der Wiedervereinigung erweckten Erwartungen – inzwischen Ressentiments entstanden, für die eine ziemlich offen rassistische Hetze gegen Muslime offenbar einen gut geeigneten Aufhänger bietet.

Der Autor meinte ferner, ein „rigoroser Laizismus“ könne den „Pegida“-Anhängern und den Konflikten zwischen den religiösen Lagern den Nährboden entziehen.

Diese These beruht auf zwei falschen Voraussetzungen: Zum einen auf der Voraussetzung, dass ein separatistischer Laizismus, der Religionen und Weltanschauungen ins Privatleben verbannen möchte, irgendwie strenger sei, als der von uns vertretene, bereits in den Niederlanden und Belgien praktizierte, „kooperative Laizismus“; zum anderen, dass es sich bei Pegida überhaupt um einen „Konflikt zwischen den religiösen Lagern“ handelt. Die ganz große Mehrheit der Pegida-Anhänger ist doch, wie vorliegende Untersuchungen zeigen, in keiner Weise religiös – und ich möchte hier gleich hinzufügen, dass ich glaube, Grund zu der Vermutung zu haben, dass sie auch über keine reflektierte bzw. minimal ausgearbeitete Weltanschauung verfügen: Wie ein großer Teil der Konfessionsfreien dürften auch die Pegida-Anhänger eher unbearbeitete Reste verbreiteter Ideologien im Kopf haben.

Und sehen Sie ebenfalls diese „säkulare Mehrheit“, auf sich die Gegner des Modells der kooperativen Laizität immer wieder berufen?

Ich sehe hier starken Differenzierungsbedarf: Einerseits gibt es auch unter denjenigen, welche formell noch den christlichen Kirchen angehören, zweistellige Prozentsätze von Menschen welche sich in keiner erkennbaren Weise mehr religiös orientieren; andererseits sehe ich nur einen Teil der Konfessionsfreien als ernsthaft um die Klärung der eigenen Weltanschauung bemüht.

Auf dem Kongress gab es eine Diskussionsbemerkung, die sicherlich ein bisschen daneben ging, aber doch einen wichtigen Punkt traf: Ein Vertreter des Buddhismus vertrat die These, dass die Diskussion daran litte, dass die wichtigste in Deutschland praktizierte Religion gar nicht als solche vertreten sei – nämlich die Alltagsreligion des „Konsumismus“.

Wir als organisierte Humanistinnen und Humanisten sollten uns darüber klar sein, dass wir mit unserer Weltanschauung zwar vermutlich das Denken einer Mehrheit unter den Konfessionsfreien, sowie von unterschiedlichen Minderheiten unter den Angehörigen der Kirchen und der Religionsgemeinschaften artikulieren, dass daneben aber sowohl unter konfessionsfreien wie unter erklärtermaßen religiösen Menschen auch allerlei andere Orientierungen – und auch Desorientierungen – zu finden sind.

Der Begriff des „Säkularen“ ist jedenfalls nicht dazu geeignet, irgendeine greifbare Art von umfassender weltanschaulicher Orientierung zu bezeichnen. Richtig verstanden, bezieht er sich nur auf den einen Punkt der Trennung zwischen Staat und Religion: Dass wir in Deutschland immer noch darüber diskutieren, ob Kirche und Staat zu trennen sind, und nicht damit begonnen haben, uns darüber zu verständigen, wie dies sinnvollerweise geschehen soll, also ob „separatistisch“ oder ob „kooperativ“, zeigt doch, wie weit zurück wir in der Debatte sind, welchen Stellenwert religiöse und weltanschauliche Orientierungen innerhalb moderner demokratischer Staaten haben können und sollten.

Dass aber viele säkulare Bürgerinnen und Bürger das öffentliche und politische Tauziehen um das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften leid sind, können Sie nachvollziehen?

Die Frage macht eine Voraussetzung, welche ich doch bezweifle: Dass es nämlich in Deutschland bereits ein derartiges „öffentliches und politisches Tauziehen“ gibt. Das sehe ich bisher nämlich nicht – der religionspolitische Kongress der Grünen war nicht mehr als ein erster Versuch, eine derartige qualifizierte öffentliche Debatte überhaupt in Gang zu setzen, was ich für dringend erforderlich halte und insofern auch begrüße. Trotz der religionspolitischen Verkürzung im von den Grünen gemachten Ansatz.

Mal ganz frei gesponnen: Bräuchte es vielleicht eine eigene Partei für säkulare Wähler?

Wie schon gesagt: Der Begriff des „Säkularen“ bezieht sich auf einen ganz bestimmten Punkt – auf die öffentliche Verfassung des Verhältnisses von Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften und staatlichen Einrichtungen. „Säkularismus“ ist daher weder als Weltanschauung wirklich vorstellbar, noch auch als politische Programmatik. In Deutschland gibt es nicht nur beispielsweise „säkulare Grüne“, sondern auch entsprechende Gruppierungen in der SPD und in der Partei der LINKEN – und nicht zu vergessen, auch in der inzwischen unter die Fünf-Prozent-Grenze abgerutschten FDP. Es gibt also keinerlei Grundlage für einen Versuch, an der Frage der Trennung von Staat und Kirche einen Neuansatz parteipolitischer Organisierung aufzubauen.

Im Bundestag und bei den sogenannten Sonntagsfragen steht die Unionsfraktion unverändert stark da. Was hat das für Gründe, dass eine so stark säkularisierte Gesellschaft wie die unsrige für eine christlich-demokratische Regierung stimmt?

Ein Grundgedanke der Christdemokraten ist es von Anfang an gewesen, den traditionell konfessionell geprägten Gegensatz von Katholiken und Protestanten politisch zu entschärfen. Inzwischen bemühen sie sich auch um eine Integration muslimischer Menschen, welche sich ihrer liberalkonservativen politischen Programmatik anzuschließen gewillt sind. Auch wenn vielleicht noch ein vager „Gottesbezug“ bzw. eine privilegierte Bezugnahme auf ein imaginiertes Kartell der Religionsgemeinschaften im Selbstverständnis der Union eine Rolle spielen mag, hat dies im großen Ganzen für ihre politische Programmatik keine besondere Bedeutung mehr.

Mittlerweile gibt es auch in den Kirchen zunehmend Expertenstimmen, welche die Erneuerung des Staatskirchenrechts hin zu einem Religions- und Weltanschauungsverfassungsrecht auf Basis der Vorstellungen von kooperativem Laizismus fordern, damit den Interessen Konfessionsfreier und Andersgläubiger besser Rechnung getragen wird. Würden Sie eine zeitliche Prognose wagen, wann sich hier spürbar etwas bewegt?

Auf dem Podium im Düsseldorfer Landtag zu den rechtlichen Fragen der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften war der Kirchenrechtler Prof. Dr. Traugott Jähnichen durchaus ein derartiger Experte, der mit unseren Positionen und Forderungen weitestgehend übereinstimmte. Innerhalb der Rechtswissenschaft – innerhalb derer noch vor wenigen Jahren die Meinung promotionsfähig gewesen ist, islamische Religionsgemeinschaften seien keine Kirchen und könnten daher am Staatskirchenrecht keinen Anteil haben – ist hier ein langsamer Prozess der Veränderung im Gange, der aufgrund des Gewichts der Argumente und der gesellschaftlichen Tatsache des Bedeutungsverlustes der christlichen Kirchen in Deutschland durchaus in unsere Richtung geht.

Wann und wie weit sich derartige Auffassungen auch in Gesetzgebung und Verwaltung durchsetzen werden, ist schwer zu prognostizieren – zumal im Religions-und Weltanschauungsverfassungsrecht kein zentrales Thema der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung liegt. Dass die Grünen jetzt diese Problematik aufgegriffen haben, werte ich allerdings als ein Indiz dafür, dass die jahrzehntelange politische Stagnation in dieser Frage sich aufzulösen beginnt. Wir werden allerdings darauf achten müssen, dass diese Bewegung sich nicht bloß mit der verbesserten Integration von Muslimen und Aleviten zufrieden gibt, sondern auch die Weltanschauungsgemeinschaften im öffentlichen Recht auf gleicher Augenhöhe bringt.

Was sagen Sie Anhängern des religions- und kirchenkritischen Lagers in Deutschland, die Ihnen fehlenden Mut zuschreiben, was etwa die Forderung nach radikalen Reformen hin zu einem rigiden Laizismus wie dem in den USA oder in Frankreich betrifft?

Ich kann mich hier relativ schlicht fassen: Wie oben schon umrissen ist ein kooperativer Laizismus weder eine Light-Version noch eine ängstliche Variante des Laizismus. Er macht mit der Beendigung der Privilegien der christlichen Kirchen durchaus Ernst, ohne sie aber deswegen aus ihrer öffentlichen Verantwortung zu entlassen. Indem er die Forderung erhebt und durchsetzt, alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im öffentlichen Raum gleich zu behandeln – und zwar sie entsprechend ihrer realen gesellschaftlichen Bedeutung anzuerkennen und auch zu fördern – macht er wichtige kulturelle, d.h. denkerische und praktische, Ressourcen für das öffentliche Leben produktiv.

In einer erschreckenden Radikalisierung von Gläubigen, ich meine die Anschläge auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“, wie in Paris würden Sie auch ein Stück weit das Scheitern des französischen Systems sehen?

Ich möchte diese mörderischen, terroristischen Anschläge, welche wir nur unbedingt verurteilen können, nicht für etwas anderes instrumentalisieren. Allerdings denke ich schon, dass der Einfluss eines islamistischen Terrorismus auf bestimmte Segmente der muslimischen Jugend in Frankreich nicht nur mit der von ihnen erfahrenen ökonomischen Perspektivlosigkeit und soziokulturellen Ausgrenzung zu tun hat, sondern immer noch damit, dass die französische Katho-Laizität als solche allenfalls ganz kleine, nämlich akademische Räume für einen modernen, aufgeklärten Dialog mit Muslimen und Lehrern des Islam zur Verfügung stellen kann.

Im Zentrum der Streits um das richtige Verhältnis zwischen Staat und Religionen steht immer wieder das sogenannte Böckenförde-Diktum, laut dem der Staat auf die Religionsgemeinschaften als Wertelieferant angewiesen ist. Das erscheint eingängig, denn über Fragen des guten Lebens kann der Gesetzgeber in einem freiheitlichen Staat nur in Grundzügen etwas sagen. Manche Atheisten bestreiten die Gültigkeit der Aussage jedoch vehement. Sehen Sie hier gute Argumente?

Meines Wissens hat Böckenförde selber die einseitige kirchen- oder zumindest religionspolitische Zuspitzung seines Diktums inzwischen zurückgenommen – und damit hat er auch recht: Die Aufgabe sich grundlegende und stabile Orientierungen in Bezug auf sogenannte Werte zu verschaffen, hat in der Tat jeder Bürger und jede Bürgerin – und es wäre naiv bzw. tendenziell totalitär zu glauben, dass er diese Aufgabe an den Staat delegieren könnte.

Es scheint mir hier aber ganz wichtig zu sein – und darin liegt immer noch eine kritische Pointe auch gegenüber dem dergestalt gewissermaßen laizisierten Böckenförde-Diktum –, dass dies primär eine Aufgabe jedes einzelnen ist, welche er auch nicht an Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften delegieren kann und darf – so sehr diese ihm auch, und zwar weit spezifischer als der zur Neutralität verpflichtete Staat, dabei durch entsprechende Angebote und Argumentationen helfen können.

Herr Wolf, vielen Dank für das Interview.

Inhalt teilen

Unsere letzten Pressemitteilungen

Humanistischer Verband Deutschlands hält Reform des Schwangerschaftsabbruchs für breit konsensfähig

In Deutschland werden innerhalb der Dreimonatsfrist jährlich ca. 96.000 Schwangerschaftsabbrüche straffrei vorgenommen. Dabei gilt nach Gesetz ab Einnistung der befruchteten Eizelle in den Uterus, dass diese bereits Würde- und Lebensschutz haben soll. Deswegen soll die Abtreibung gemäß Paragraf 218 StGB rechts- und sittenwidrig sein. Diese Widersprüchlichkeit in den Paragrafen 218 ff. StGB und die anachronistische Stigmatisierung von unerwünscht schwangeren Frauen sollen nunmehr gemäß einer aktuellen Kommissionsempfehlung moderat reformiert werden. Die Schritte dazu dürften auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens treffen – wobei der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) sich noch weitergehende Vorschläge wünscht.

Weiterlesen »
Nach oben scrollen