Pegida-Proteste in Dresden, Terroranschläge auf „Charlie Hebdo“ in Paris – die letzten Wochen standen wieder zunehmend im Licht des „Kampfes der Kulturen“. Auf der einen Seite formieren sich fremdenfeindliche und rassistische Haltungen sichtbarer, auf der anderen gießen einzelne Extremisten Öl in das Feuer des rechtskonservativen Hasses. Wie sind die sich zuspitzenden Entwicklungen aus humanistischer Perspektive zu deuten?
Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, sieht wenige Gründe für eine Entwarnung und meint, „diese Probleme werden sich zunächst einmal weiter verschärfen und nicht etwa verschwinden.“ Doch auch wenn Lösungen für die komplexe Krise nicht leicht zu finden sind, sei es zunächst die Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger, das politische Gemeinwesen nicht durch geistige Brandstifter vergiften zu lassen.
Herr Wolf, rund 18.000 Anhänger der „Pegida“-Bewegung haben zuletzt in Dresden gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ demonstriert. Auch in anderen Städten wird versucht, diese Protestzüge zu formieren. Bis zu 6.000 Anhänger werden am nächsten Montag in Leipzig erwartet. Warum erhalten diese Gruppen so großen Zulauf?
Ich denke, es gibt in unseren Gesellschaften seit den 1990er Jahren eine starke ökonomische Polarisierung und auch eine durch Wirtschaftspolitik erzeugte neue Massenarmut. Das macht vielen Menschen Angst, auch wenn sie individuell gar nicht betroffen sind. Und derlei Ängste lassen sich gut auf angebliche Bedrohungen und Sündenböcke projizieren. In den Massenmedien ist ja seit dem Anfang des Jahrhunderts geradezu daran gearbeitet worden, den Islam mit dem Islamismus zu identifizieren und an der Stelle des Feindbilds „Sowjetblock“ eine neue Bedrohung zu propagieren, durch die sich die Militarisierung und Überrüstung rechtfertigen lässt. Dummerweise nehmen das die Pegida-Anhänger jetzt ernst, auch noch nach dem gescheiterten arabischen Frühling und in einer Lage, wo es gar keine auch nur minimal humane Alternative dazu gibt, dass Europa und Deutschland sehr viel mehr Flüchtlinge aufnehmen, lassen sie sich einreden, dass sie sozial und kulturell von diesen Flüchtlingen bedroht werden. Dass das völliger Unsinn ist, wollen sie nicht wissen, weil sie Angst davor haben, sich mit denen auseinanderzusetzen, die wirklich in unseren Gesellschaften für die ökonomische Polarisierung und die bewusst in Kauf genommene massenhafte Verarmung verantwortlich sind.
Wes Geistes Kind sie in dieser Haltung sind, wird gerade daran deutlich, wie sie die Forderungen nach Gender-Gerechtigkeit als Bedrohung für sich selber definieren. Daran, die bestehende Diskriminierung von Frauen wieder auf Dauer als Normalfall entwickeln zu wollen, ist überhaupt gar nichts Humanes – und schon gar nichts Humanistisches!
Sehen Sie irgendwelche aus humanistischer Perspektive berechtigten Anliegen in den Reihen der Pegida-Anhänger?
Ich sehe da keine berechtigten Anliegen, trotz einiger heuchlerischer Weichspülversuche in ihrem Forderungskatalog. Sie fordern ganz schlicht rassistische, sexistische und xenophobe Diskriminierung. Das ist nicht nur inhuman, sondern ganz bewusst antihuman. Dafür darf es kein „humanistisches Verständnis“ geben. Ganz anders ist es mit den realen Problemen, auf die sie mit ihren abzulehnenden Forderungen einfach falsch reagieren. Ein anständiger Mindestlohn und ein existenzsicherndes Grundeinkommen – aber auch eine nachhaltige Regionalentwicklung in allen Regionen, wenn schon nicht die grundgesetzlich geforderte Gleichheit der Lebensbedingungen erreichbar ist – würden da einen beträchtlichen Unterschied machen.
Und die wechselseitige Respektierung von Kulturen und Traditionen, auch von Religionen und Weltanschauungen, passiert eben nicht einfach von selber, sondern bedarf der Voraussetzungen an Kommunikation und Bildung, die erst noch zu schaffen sind!
Warum blenden die meisten anderen Stellungnahmen, die sich mit diesem und verwandten Themen aus explizit nichtreligiös-humanistischer Sicht beschäftigen wollen, ausführlichere Analysen in größeren Maßstäben wie Ihre obige aus?
Ich fürchte, weil sie selber Angst davor haben, über die historische Lage in ihrer Gesamtheit zu reden, in der sich die Menschheit heute befindet. Und denken, dass sie sich um die Verantwortung drücken können, der grimmigen Wirklichkeit in die Augen zu schauen, wenn man politisch agieren will. Da ist es doch viel einfacher, sich über einzelne Ereignisse oder über aus dem Zusammenhang gerissene und daher auch nur einfach frech behauptete angebliche „Tendenzen“ aufzuregen. Wirkliche Politik muss aber immer damit beginnen, sich über die Lage klar zu werden, in der mensch zu handeln versucht!
Bisher gab es zu Pediga zahlreiche Gegen-Demonstrationen, mit meist deutlich mehr Teilnehmern. Genügt das in Ihren Augen, um auf die Probleme zu reagieren, welche Pegida kennzeichnet?
Sicherlich nicht, auch wenn es ein dringend notwendiger erster Schritt ist! Vielleicht sollten wir uns an die Zeit nach „Lichtenhagen“ erinnern, in der viel Engagement und auch offizielle Förderung in den Aufbau antirassistischer Zusammenhänge gesteckt worden ist. Und nicht zuletzt eben die sozialen Minima für alle – auch natürlich die Flüchtlinge – garantieren!
Ein gänzlich neues Phänomen ist das, was da in Dresden geschieht, keineswegs. Gruppen von Alt- und Neo-Nazis finden sich da wieder, aber neu entwickelt haben sich in den vergangenen Jahren andere Gruppierungen wie etwa die „Identitären“. Rechts und „politisch inkorrekt“ sein, Nationalist sein, Patriot sein, patriotischer Europäer sein – das trifft ganz offenkundig wieder auf mehr Zustimmung bei Menschen, auch in anderen europäischen Ländern.
Ich denke, das ist ein Effekt davon, dass große Teile der Linken der These auf den Leim gegangen sind, dass es „keine Alternative“ gibt und selber keine konkret greifbaren Alternativen anzubieten haben. Da wählen diejenigen, denen die bestehenden Verhältnisse z.T. sogar aus guten Gründen stinken, dann eben rechte „Alternativen“, die wie wir doch wissen, bloße Scheinalternativen sind…
Welche Rolle spielen die politischen Parteien hier?
Das Versagen der politischen Parteien hat hier eine lange Vorgeschichte, nicht nur die eines eigenen Zündelns mit entsprechenden Ressentiments: Ganz überwiegend habe sie schon dabei versagt, alternative Entwicklungspfade aufzuzeigen und zu erkämpfen. Demgemäß sind sie – wie auch die sinkende Wahlbeteiligung zeigt – für alle Opfer von Polarisierung und Massenarmut keine glaubwürdigen politischen Adressen mehr.
Es gibt offenbar auch nicht wenige Atheisten, die klare Sympathien für Pegida & Co. äußern – jedenfalls erhält man diesen Eindruck, wenn man die Kommentarspalten in den Medienberichten liest.
Atheismus als solcher schützt weder vor Dummheit noch vor Bosheit. Ebenso wenig wie Religion automatisch Dummheit oder Bosheit mit sich bringt. Oder weniger grobschlächtig formuliert: Mit der Loslösung von traditionellen Glaubensvorstellungen ist keineswegs automatisch eine Befreiung von herrschenden Ideologien verbunden – ich erinnere nur an den sich – wie wir inzwischen wissen – ganz fälschlich auf naturwissenschaftliche Aufklärung berufenden Sozialdarwinismus im Zeitalter der Imperialismen oder an die z.T. daran anknüpfenden Phantasien der sogenannten Eugenik gerade unter wissenschaftlich gebildeten Ärzten im 20. Jahrhundert.
Gestern ist auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ ein Anschlag verübt worden, bei dem 12 Menschen ermordet und weitere verletzt wurden. Die Täter waren aller Wahrscheinlichkeit nach Muslime. Das ist Wasser auf die Mühlen extremistischer Gruppen, aber auch islamkritischer Atheisten. Warum haben diese trotzdem nicht Recht mit ihren Warnungen?
Der islamistische Terror ist ebenso wenig eine Konsequenz des Islam, welche – wie dann behauptet wird – dessen innere Wahrheit enthüllt, wie die Autodafés der Inquisition die „Wahrheit“ der katholischen Kirche oder die Hexenverbrennungen die „Wahrheit“ des Protestantismus enthüllt haben. Sicherlich ist zu untersuchen, warum es in derartigen Glaubensrichtungen zu derartigen Pervertierungen hat kommen können, aber deswegen den ersten Schritt jeder Vernunft zu verweigern, nämlich zu unterscheiden zwischen Protestantismus und organisiertem Hexenwahn, zwischen Katholizismus und dem Terror der Inquisition, und eben auch zwischen Islam und Islamismus, ist völlig unvernünftig und humanistisch inakzeptabel. Übrigens ist durchaus auch zwischen anderen Formen des Islamismus und dem sich islamistisch legitimierenden Terrorismus zu unterscheiden, auch wenn das manchmal schwer fallen mag.
Selbstverständlich sollte mensch übrigens alle Religionen und Weltanschauungen auch kritisch diskutieren – aber falsche Gleichsetzungen sind eben das gerade Gegenteil von Kritik, die vielmehr immer damit beginnt, richtige Unterscheidungen zu treffen!
Grundsätzlich ist hier zum einen aber auch noch festzuhalten, dass es auch falsch wäre, Pegida nun einfach mit allen diesen Varianten einer antihumanen Religions- und Islamkritik gleichzusetzen, in denen den Muslimen schlicht die Religionsfreiheit abgesprochen wird. Die Vordenker von Pegida beschränken sich auf die Unterstellung, dass der Terrorismus im Islamismus und der Islamismus im Islam irgendwie „angelegt“ ist – und gehen damit doch nur der haarsträubend willkürlichen „Theologie“ der islamistischen Terroristen auf den Leim.
Humanistinnen und Humanisten weltweit hat der Terroranschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ ebenfalls schockiert. Sonja Eggerickx, Präsidentin der Internationalen Humanistischen und Ethischen Union, verurteilte das Attentat „islamfaschistischer Terroristen“. Eggerickx warnte kurz nach dem Bekanntwerden des Attentats jedoch davor, auf barbarische Akte mit eben solchen zu reagieren:
Europa steht in der Tradition des Humanismus, in der sowohl die Meinungsfreiheit und die Freiheit des Denkens und des Glaubens, einschließlich der Religionsfreiheit, geachtet und gesetzlich garantiert werden. Überzeugungen zu kritisieren, auch durch Satire und Spott, schränkt die Glaubensfreiheit anderer nicht ein. Vielmehr ist die Kritik der wesentliche Kern des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Im Gegensatz dazu ist Mord die ultimative Auslöschung aller Freiheiten einer Person und ihrer Existenz.
Es ist unsere aufrichtige Hoffnung, dass Europa sich vor dieser Gewalt weder beugen, noch dagegen erheben wird. Wir werden uns nicht provozieren lassen, in die gleiche Barbarei zu verfallen. Wir werden dem Terror widerstehen, und wir werden die Meinungsfreiheit verteidigen, denn sie ist grundlegend für ein freies und erfülltes Leben.
Wie sollte man darauf reagieren?
Hier sollten wir uns mehr Mühe machen, so dass auch die anderen Strömungen des Islam für uns sichtbar werden – nicht nur die sogenannten „moderaten“, zumeist nur traditionalistischen Formen, denen die Mehrzahl der armen Bauern in ihren Heimatländern anhingen, welche dann zu Arbeitsmigranten geworden sind, oder dem reaktionären Salafismus, wie ihn die Saudis in Europa fördern, sondern vor allem die „aufgeklärten“ Ansätze des „westlichen Islam“, wie er seit den 1960er Jahren in Frankreich und in Großbritannien von islamischen Intellektuellen ausgearbeitet worden ist.
Zum anderen aber ist die berechtigte Empörung über den inhumanen Terrorismus dieser Mörder aber auch in eine nüchterne Untersuchung der strategischen Frage umzusetzen, wie dieser Terrorismus wirksam bekämpft werden kann. Und ich denke doch, dass es hier eigentlich ganz klar ist: Eine Strategie à la Huntington, der im „clash of civizations“ den „Westen“ gegen den islam(ist)ischen „Osten“ mobilisieren will, ist hier auch ganz realpolitisch völlig kontraproduktiv – indem sie der islamistischen Propaganda nämlich mit umgekehrten Vorzeichen in die Hände spielt.
Radikale Christen hier, fanatische Muslime da – warum ist es denn nicht in erster Linie die Aufgabe der betroffenen Glaubensgemeinschaften, gegen ihre radikalen Gruppen vorzugehen?
Zunächst einmal ganz schlicht, weil nicht nur diese Glaubensgemeinschaften betroffen sind! Auch wir als Humanistinnen und Humanisten haben ein Interesse daran, dass hier klar politisch gegen antihumane Vorstöße und inhumane Praktiken Position bezogen wird. Deswegen sollten wir aber in der Tat nicht diese Glaubensgemeinschaft aus der Verantwortung dafür entlassen, sich darum zu kümmer, dass ihre Gläubigen nicht derartigen Pervertierungen ihres Glaubens hilflos gegenüberstehen!
Und welche konkrete Verantwortung tragen in dieser Hinsicht Menschen mit humanistischen Überzeugungen?
Das ist erst einmal eine Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger dafür, dass ihr politisches Gemeinwesen und ihre Kultur nicht durch geistige Brandstifter wie die Vordenker von Pegida vergiftet werden! Ich sehe da ansonsten keine besondere Verantwortung auf unserer Seite – allenfalls die, gegen durchgeknallte Atheistinnen und Atheisten argumentativ vorzugehen und damit spezifisch diejenigen Menschen, welche humanistischen Überzeugungen anhängen, vor geistigen Abirrungen in völlige Verkehrungen unserer Ideen zu bewahren.
Würden Sie eine Schätzung abgeben wollen, wie lange es dauert, bis sich die Wellen der kulturellen Erschütterung durch die Globalisierung wieder legen?
Lieber nicht, also keine Prognose über die Dauer dieser Problemkonstellation! Ich fürchte, diese Probleme werden sich zunächst einmal weiter verschärfen und nicht etwa verschwinden.
Und das liegt daran, dass es sich eben nicht nur um kontingente kulturelle Erschütterungen handelt: Vielmehr befindet sich die Menschheit in einer komplexen historischen Krise, deren Bewältigung die herrschende Politik immer nur vor sich herschiebt. Erst wenn es in dieser Hinsicht zu einer Umkehr kommt, also zu nachhaltigen Versuchen einer gemeinsamen politischen Gestaltung der Zukunft, besteht wieder Hoffnung darauf, dass derartige irrationale und antihumane Impulse einer völlig imaginären Krisenbewältigung zurückgedrängt und überwunden werden können.
Welche Argumente haben denn Humanistinnen und Humanisten bis dahin, angesichts der Extremisten auf allen Seiten?
Vor allem das schlichte Argument der menschlichen Vernunft, die an das gemeinsame Interesse aller Menschen am Überleben der menschlichen Kultur und Zivilisation appelliert: Es gibt einfach keine Alternative zu einem weiteren Ringen um gemeinsame Lösungen für die gesamte Menschheit, so schwer dies auch fällt, wie wir seit dem „Erdgipfel“ von Rio 1992 haben sehen müssen.
Alle Versuche, die Probleme nicht zu lösen, sondern nur auf andere abzuwälzen, werden scheitern. Mit der letztlichen Konsequenz eines gemeinsamen Untergangs. Der mag sich ja in Zeitlupe vollziehen, er erfolgt vielleicht auch, wie dies T. S. Eliot in der „Nacht des 20. Jahrhunderts“ formuliert hat: „not with a bang but a whimper“ – aber es wird eben doch ein Untergang sein. Und daran, solch einen Untergang der zivilisierten Menschheit zu vermeiden, könnten und sollten doch alle Menschen ein Interesse entwickeln!
Herr Wolf, vielen Dank für das Interview.